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Etappe 4: Grundlagen der empirischen Netzwerkforschung
In der vierten Etappe wirst du dir Grundlagen der empirischen Netzwerkforschung aneignen. Du wirst zum einen erfahren, welche zwei Netzwerkperspektiven in der Forschung eingenommen werden können (Gesamt- oder Egonetzwerk) und was die grundlegenden Eigenschaften von Akteursbeziehungen sind. Zum anderen wirst du nicht-graphische Darstellungsformen von Netzwerken (Matrix, Liste, Text) kennenlernen. Sie zu verstehen ist für das empirische Arbeiten mit Netzwerkdaten essenziell.
Mit der gemeinhin quantitativ-statistischen SNA untersucht man im Hinblick auf eine oder mehrere Beziehungseigenschaften ...
1. Die strukturelle Beschaffenheit von Netzwerken
2. Die Einbettung bzw. Positionierung von Akteuren innerhalb einer Netzwerkstruktur.
Aus handlungstheoretischer Perspektive wird dabei angenommen, dass die Netzwerkstruktur als sozialer Kontext dient, welcher Akteursinteressen und letztlich tatsächliche Handlungen mit beeinflusst. Andersherum wirken bestimmte Handlungen jedoch auch wieder zurück auf die soziale Struktur eines Netzwerks (s. Abbildung rechts).

Bei der Planung einer Forschungsarbeit zu sozialen Netzwerken stellt sich vorerst die grundsätzliche Frage, ob man ein "ganzes" bzw. in sich geschlossenes Gesamtnetzwerk oder ein oder mehrere Egonetzwerke erheben möchte (s. unten). Dies hängt in erster Linie von der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse ab. Grundsätzlich arbeitet man mit Gesamtnetzwerk eher quantitativ-statistisch, mit Egonetzwerken eher qualitativ-interpretierend.
Außerdem sollte man sich dessen bewusst sein, dass mit den Daten eines Gesamtnetzwerkes auch leicht Egonetzwerke erstellt werden können, aus vereinzelten Egonetzwerken sich jedoch schwer ein Gesamtnetzwerk rekonstruieren lässt.
Wolf, C. (2010): Egozentrierte Netzwerke: Datenerhebung und Datenanalyse. In: Stegbauer, C. & R. Häußling (Hrsg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. DOI: 10.1007/978-3-531-92575-2_41
Gesamtnetzwerk
Bei einem Gesamtnetzwerk befragt man möglichst alle Akteure (z. B. Studierende) einer sogenannten Population (z. B. Studiengang), ob eine Beziehung zu anderen Akteuren der Population besteht. Die Grenzen des Netzwerks müssen vorher also bekannt bzw. definiert sein! Anhand des daraus entstehenden Gesamtnetzes kann man die strukturelle Beschaffenheit des Netzwerks sowie die Positionen einzelner Akteure analysieren.

Egonetzwerk
Bei den egozentrierten oder auch persönlichen Netzwerken stellt man für einen fokalen Akteur (Ego) fest, mit welchen anderen Akteuren (Alteri) eine Beziehung besteht. Die notwendigen Angaben stammen meist vom Ego selbst; d. h. die fokale Person gibt Auskunft über ihre Beziehungen zu anderen Personen und deren Eigenschaften (manchmal auch noch über die Beziehungen zwischen den Alteri). Es wird also das Netzwerk aus der Sicht einer Person erhoben und analysiert, sodass man z. B. Aussagen über die soziale Einbettung treffen kann.

Die Beziehungen (Kanten) spielen bei der Erhebung und Analyse von Netzwerken ebenfalls eine wichtige Rolle. Dabei kann zwischen zwei Beziehungseigenschaften unterschieden werden: Richtung und Gewichtung. Wenn du zu den struktur- sowie akteursbezogenen Relationsmaßen und Berechnungsmethoden (Koffer B) kommst, wirst du merken, dass diese Beziehungseigenschaften sehr relevant sind!
Haas, J. & T. Malang (2010): Beziehungen und Kanten. In: Stegbauer, C. & R. Häußling (Hrsg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. DOI: 10.1007/978-3-531-92575-2_8
Ausgangsnetzwerk
Ungerichtete & ungewichtete Beziehungen

Gerichtete Beziehungen
Voraussetzung für das Konzept der gerichteten Kante ist eine Beziehungsart, welche die Trennung des Senders und Empfängers möglich macht oder verlangt. Visualisiert wird die Richtung mit Pfeilen. Aus Akteursperspektive von ausgehenden (A→?) und eingehenden (A←?) Beziehungen gesprochen.

Gewichtete Beziehungen
Voraussetzung für das Konzept der gewichteten Kante ist eine Beziehungsart, welche nach ihrer Stärke oder Intensität gewichtet werden kann. Visualisiert wird die Gewichtung meist durch die Dicke der Kante.

Gerichtete & gewichtete Beziehungen
Gewichtete Kanten können sowohl in gerichteten als auch in ungerichteten Graphen vorkommen!


Frage zum Mitdenken
Fallen dir Beziehungstypen ein, bei denen (nur) Richtung Sinn ergibt?
- Wahl: Stimmenabgabe
- Rat suchen: Bei welcher Person wird Rat gesucht?
- "Folgen" auf einer Social-Media-Plattform
Ergibt keinen Sinn:
- Verwandtschaftsbeziehung oder sich treffen (sind automatisch zweiseitig!)
Frage zum Mitdenken
Fallen dir Beziehungstypen ein, bei denen (nur) Gewichtung Sinn ergibt?
- Begegnungen: Wie oft zusammen auf den gleichen Veranstaltungen
- Zusammenarbeit: Anzahl gemeinsamer Projekte
- Allgemeine Interaktionshäufigkeiten (z. B. zwischen Büromitarbeiter:innen)
Frage zum Mitdenken
Fallen dir Beziehungstypen ein, bei denen sowohl Richtung als auch Gewichtung Sinn ergeben?
- Geld geliehen (nach Betragshöhe)
- Anzahl Zitationsbeziehungen zwischen Autor:innen (Achtung: Selbstbezug möglich!)
- Volumen des Außenhandels (Import & Export) zwischen Staaten
Multiplexität bezieht sich auf die Beziehungen in Netzwerken und liegt dann vor, wenn zwei oder mehrere unterschiedliche Relationen gleichzeitig betrachtet werden. Eine multiplexe bzw. multivariate Beziehung bedeutet also, dass die Beziehung zweier Akteure mehrere Dimensionen beinhaltet. Visualisiert werden multiplexe Netzwerke zumeist mit verschiedenfarbigen Kanten oder verschiedenen Linienarten.
Multiplexe Beziehungen werden beispielsweise genutzt, um Zusammenhänge zwischen Beziehungsarten zu analysieren. Eine Beispielfrage wäre, ob Manager, die befreundet sind, sich eher gegenseitig im Beruf unterstützen. Eine weitere Frage aus der Organisationsforschung kann lauten, ob Informationsaustausch zwischen Interessengruppen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich diese Gruppen bei politischen Aktionen gegenseitig helfen.
Zur Rechten findest du zwei mögliche Versionen eines (fiktiven) Beispielnetzwerks. Als Knoten zu sehen sind die Gemeinderatsmitglieder*innen des unscheinbaren Ortes Saupas in Zwischenbayern. Die Verbindungen unter den Politikakteuren bestehen auf der Grundlage von Vereinszugehörigkeiten (lokale Freizeit- und Kulturvereine) und/oder der Mitgliedschaft in derselben politischen Partei.
- Bärbel und Rosalie sind durch ihre Parteimitgliedschaft bei der SPD verbunden (rote Linie). Außerdem ist Bärbel zusammen mit Alois im Verein der Zwischentaler Wandersleut. Rosalie ist hingegen in keinem lokalen Verein eingeschrieben.
- Alois, Xaver und Erika haben untereinander eine Beziehung aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit zur CSU (schwarze Linien). Zudem ist Alois mit Erika über ihre sportliche Tätigkeit im lokalen Volkstanzverein und mit Xaver über den Roller-Club Saupas verbunden. Erika und Xaver hingegen sind beide auch beim lokalen Kaninchenzuchtverein.
- Der einzige Grünen-Anhänger Hubert gehört dem Vogelfreunde e. V. an, ist damit jedoch der einzige in dem Netzwerk und hat daher keinerlei Verbindung zu anderen Akteuren.



Frage zum Mitdenken
Was sind (statistische) Auffälligkeiten an diesem Netzwerk?
- eine gemeinsame Mitgliedschaft bei der CSU und eine gemeinsame Mitgliedschaft in (bestimmten) Freizeit- und Kulturvereinen korrelieren (d. h. stehen in einem Zusammenhang)
- Gemeinderatsmitglieder der Grünen und der CSU sind häufiger in Vereinen aktiv als Mitglieder der SPD
Frage zum Mitdenken
Was könnte man in dieses politische Netzwerk vorsichtig "hineininterpretieren"?
- Vereinsmitgliedschaften wirken sich - auf kommunaler Ebene - wohl positiv auf das Erlangen eines Gemeinderatssitzes aus (z. B. durch höhere öffentliche Wahrnehmung, mehr Nahbarkeit, Kontakte etc.)
- aus den Reihen der CSU scheint man nur einen Gemeinderatssitz zu bekommen, wenn man in einem oder mehreren Vereinen ist; vielleicht ist die Vereinskultur in der Kommune aber auch einfach sehr ausgeprägt, dass fast jede Person in einem Verein Mitglied ist ...
Haas, J. & T. Malang (2010): Beziehungen und Kanten. In: Stegbauer, C. & R. Häußling (Hrsg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. DOI: 10.1007/978-3-531-92575-2_8
Graphisch aufbereitete Netzwerke sind die wohl populärste Darstellungsform von Beziehungsgeflechten. Heutzutage automatisiert erstellt und angeordnet durch moderne Visualisierungssoftware geben sie uns viele wertvolle Informationen über Netzwerkstruktur und ihre Schlüsselakteure, die alle auf einen Blick erfassbar sind.
Auch wir sind im Kurs bisher nur auf graphische Netzwerkdarstellung gestoßen. Es gibt aber auch noch drei weitere Lesarten: da wäre b) die Matrix, c) die Liste und d) der Text. Diese werden wir uns in den folgenden Reitern genauer anschauen.

Warum sollte man Netzwerke in einer komplizierten tabellarischen Matrix aufbereiten, wenn es doch auch leichter verständliche und visuell ansprechendere Darstellungen im Graphenformat gibt?
Die Antwort liegt in der Mathematik, dem technischen Fortschritt und im empirischen Forschungsablauf. Hat man früher relationale Daten nach Gutdünken in einem handgefertigten Netzwerkgraphen festgehalten, werden die Graphen heutzutage mithilfe von Computerprogrammen erstellt. Sie berechnen euklidische Distanzen und ordnen Knoten ihren Beziehungen entsprechend so an, dass (soziale) Entfernungen möglichst genau und somit vergleichbar sind. Damit die Programme aber rechnen können, benötigen sie Netzwerkdaten, die zumeist in Form von Tabellen bzw. Matrizen erhoben werden.
Man erhebt also Daten, fertigt erst eine Matrix (oder Liste) an und dann kommt der cumpergenerierte Graph!
Die Liste ist eine weitere, als Tabelle gedachte Form, ein Netzwerk darzustellen. Die Liste ist jedoch deutlich einfacher zu durchdringen als eine Matrix. Im Matrix-Jargon handelt es sich bei Listen immer um One-Mode-Matrizen, die gerichtet oder ungerichtet und gewichtet oder ungewichtet sein können. Zu lesen sind Listen zeilenweise von links nach rechts und erstellt werden sie immer nach dem Prinzip einer übersichtstiftenden Reihenfolge - in diesem Fall alphabetisch. Nehmen wir die erste Zeile der Liste unten als Beispiel: In der ersten Spalte befindet sich der Akteur A, der eine Beziehung sendet. In der Spalte daneben ist der Akteur B, welcher die gesendete Beziehung empfängt. A hat also eine Beziehung zu B (A|B). Ist das Netzwerk zudem gewichtet, befindet sich zumeist in einer dritten Spalte noch ein Zahlenwert, der die Stärke bzw. Häufigkeit der Beziehung angibt (A|B|1; bedeutet Stärke von 1).


Frage zum Mitdenken
Wie sieht die Netzwerkgraphik zur Liste ganz rechts (mit Gewichtung) aus? Hole dir einen Zettel und einen Stift, zeichne die unten vorbereitete Knotenanordnung ab und füge die Beziehungen aus der Liste ein! Arbeite bei der Richtung mit Pfeilspitzen und bei der Gewichtung mit der Dicke der Kante.
Überprüfe dein Netzwerk dann mit einem Klick auf "Antwort"!



Die letzte Form, in der Netzwerke dargestellt sein können, ist der Text. Die klarste Variante eines Netzwerkes in Textform ist in der kleinen Abbildung rechts zu sehen: Simple, einheitliche und ausformulierte Sätze, in denen deutlich wird, welcher Akteur zu welchem anderen Akteur eine Beziehung hat.
In der ersten Etappe (Denken in Netzwerken. Eine Einführung) bist du schon einmal auf ein Netzwerk gestoßen, das auf einem geschriebenen Text beruhte. Es war das Begegnungsnetzwerk aus Game of Thrones, generiert auf Grundlage der Bücher (siehe Abb. unten links). Erinnerst du dich? Personen, die in einer Szene zusammen vorkamen oder genannt wurden, erhielten hier eine Beziehung. So könnte man theoretisch jedes literarische Werk als ein Netzwerk der darin vorkommenden Charaktere betrachten!
Aus dieser Netzwerkperspektive heraus hat Franco Moretti die Tragödie Hamelt analysiert (siehe unten rechts). Die Akteure sind die Figuren des Stücks und die Beziehungen zwischen ihnen basieren auf den Dialogen. So ließ es sich in ein graphisches Interaktionsnetzwerk transformieren.


A Network of Thrones - Staffel 1-7 (Stand 06.09.2022)
Moretti, F. (2011): Network Theory, Plot Analysis. In: New Left Review, 68, S. 80–102.