Lehrvideos-Sport_Wikis_WS-2013-14

Reiter

2. Biomechanische Analyse (Mohr)

Die Wende gewann in den letzten Jahren im Hochleistungsschwimmen eine immer größere Rolle. So schwamm Michael Phelps 2007 in Melbourne bei seinem Weltrekord über 200m Freistil 54m unter Wasser. Dies entspricht 27% der Gesamtstrecke. Doch was für biomechanische Einflussfaktoren spielen bei der Kraul Rollwende eine Rolle?
 
 
2.1 Anschwimm-, Adaptions-, Drehzeit

Die Anschwimmzeit ist das Zeitintervall vom Kopfdurchgang bei 7,5m bis 2,5m vor der Wand und die Adaptionszeit ist die Dauer von 2,5m bis zur Einleitung der Drehung durch Absenken des Kopfes. Beide Größen werden maßgeblich durch die Schwimmgeschwindigkeit beeinflusst, wobei bei der Adaptionszeit auch die Größe des Schwimmers eine maßgebliche Rolle spielt (vgl. Recht, 2003, S. 26 / 27). „Die Drehzeit wird entscheidend dadurch bestimmt, inwieweit es dem Schwimmer gelingt, durch eine Optimierung der Koordination von Teilköperbewegungen zu Beginn der Drehung ein großes Drehmoment zu erzeugen und durch das Einnehmen einer engen Körperhaltung höhe Drehgeschwindigkeiten zu erreichen. Das Anhocken der Beine begünstigt die Drehbewegung durch die Verkleinerung des Massenträgheitsmoment und die Minimierung von Widerstandskräften. Die Drehzeit wird neben rotatorischen biokinematischen Merkmalen (Richtungs-, Lagewinkel, Winkelgeschwindigkeiten, Winkelbeschleunigungen) und rotatorischen biodynamischen Merkmalen (Massenträgheitsmoment, Drehimpuls, Drehmoment, Drehmomentstoß) von der Wahl des Abstandes zum Beckenrand zu Beginn der Drehung beeinflusst“ (Recht, 2003, S. 27). So ist der Abstand zur Wand und die Drehzeit von anatomischen Gegebenheiten abhängig und jeder Schwimmer muss sein Optimum individuell herausfinden.
 
 
2.2 Wandkontaktzeit

„Die Wandkontaktzeit setzt sich aus der Zeit, die der Schwimmer für die abbremsende Aktion beim Ansetzen der Fußballen an die Beckenwand und der Dauer der konzentrischen Abstoßbewegung zusammen. Die Wandkontaktzeit ist demnach abhängig von der Geschwindigkeit in Richtung Beckenwand, die der Schwimmer zu Beginn der Kontaktphase abbremsen muss, der Größe der Gelenkwinkel zu Beginn und der Zeitdauer der konzentrischen Abstoßbewegung“ (Recht, 2003, S. 28). Biomechanische Untersuchungen gibt es in der Literatur dazu nur sehr wenig. Was verschiedene Autoren jedoch zeigen konnten, war, dass geringe Wandkontaktzeiten verbunden mit einem großen Kniegelenkwinkel, also einem recht großen Abstand der Hüfte zur Wand, zu einer schnellen Wendenzeit führen (vgl. Recht, Schmidtbleicher, 2003, S. 263 und Recht, 2003, S. 25, 28)

Abb 2: Recht, Schmidtbleicher, 2003, S. 263
Erklärung: Die 5m - Wendenzeit, ist die Zeit die ein Schwimmer braucht um die Strecke 2,5m vor der Wende und 2,5m nach der Wende zurück zu legen.
 
 
2.3 Abstoßgeschwindigkeit
 
Die Abstoßgeschwindigkeit setzt sich aus dem produzierten Kraftstoß, dem Abstoßwinkel und der Körperhaltung nach dem Abstoß zusammen. Ebenso wirken negative Beschleunigungen auf den Schwimmer, die er durch strömungsmechanische Einflussfaktoren erfährt (vgl. Recht, (2003), S. 24, 30). Die negative Beschleunigung ist die Wasserwiderstandskraft. Sie setzt sich zusammen aus der Dichte des Wasser, der Querschnittsfläche des Körpers (Anströmfläche), der Strömungsgeschwindigkeit und dem Widerstandsbeiwert, einem Faktor für die jeweilige Körperform.
 
F(w) = 1/2 C(w) p A v²

F(w)      Widerstandskraft [N]
C(w)     Widerstandsbeiwert (Faktor)
p          Dichte der Flüssigkeit [kg/m³]
A          Querschnittsfläche [m²]
v²         Strömungsgeschwindigkeit [m/s]
 
Ziel ist es natürlich durch eine stromlinienförmige Körperhaltung die Querschnittsfläche und den Widerstandsbeiwert zu reduzieren. Bedingungen für eine strömungsgünstige Lage sind nach Recht (2003, S. 31) ein vollständig gestreckter Körper. Füße, Hüfte, Schulter, Kopf und Hände sollten möglichst parallel zur Wasseroberfläche liegen.
 
 
2.4 Abschwimmzeit
 
Die Abschwimmzeit ist nach Recht (2003, S. 43) das Zeitintervall vom Kopfdurchgang bei 2,5m bis zum Kopfdurchgang bei 7,5m jeweils nach der Wende und determiniert durch die Effektivität der Übergangsbewegungen und die Geschwindigkeit während der ersten Schwimmzyklen. Ebenfalls nach Recht (2003, S 43) folgt aus mehreren Studien, dass eine optimale Gleitzeit leistungsbestimmend für eine gute Wendenzeit ist. „Schwimmer, die zu lange gleiten, lassen die Geschwindigkeit unter Wettkampfgeschwindigkeit absinken und verlieren Zeit und Energie, um wieder auf diese Niveau zu beschleunigen, während Schwimmer, die zu kurz gleiten, den Geschwindigkeitsvorteil durch den Abstoß von der Beckenwand nicht optimal nutzen können“ (Recht, 2003, S 43). Bei Geschwindigkeitsmessungen in einer der o.g. Studie ergab sich, dass bei einer zu früh begonnenen Delphinbeinbewegung die Schwimmgeschwindigkeit schon nach 1,5s um > 0,5 m/s auf <1,5 m/s abgesunken ist. Es ergab sich, dass die optimale Geschwindigkeit für den Beginn der Übergangsbewegung zwischen 1,9 m/s und 2,2 m/s liegt und damit trotzdem noch höher, als die Wettkampfgeschwindigkeit. Diese optimale Geschwindigkeit hat man nach einer Gleitphase von ca. 0,5m erreicht, bei einer durchschnittlichen Abstoßgeschwindigkeit von >3,0 m/s. Aufgrund der hohen Effizienz wird heutzutage im Freistilschwimmen vorwiegend der Delphinbeinschlag geschwommen, bei dem unter Wasser höhere Geschwindigkeiten erreicht werden können, als in der Schwimmbewegung über Wasser. Deshalb ist die Wende im Schwimmen so zentral wichtig geworden, da hier noch Zeitreserven liegen.
 
 
2.5 Zusammenspiel der einzelnen Phasen und eine optimale Wendenleistung
- Wie Michael Phelps die Wende revolutioniert hat.-
 
Die Wende im Schwimmen unterliegt einem Optimal- und keinem Maximaltrend. So kann es passieren, dass bei einem Endlauf mit acht Schwimmern acht verschiedene Wendentechniken zu beobachten sind. Jeder Schwimmer vollzieht seine Wende so, wie er für sich selber am schnellsten ist. Deshalb ist es so schwer hier signifikante Tests und Studien durchzuführen. Deswegen beschränkt man sich oftmals nur auf die Beschreibung, wie eine bestimmte Aktion durchgeführt wird.
Der folgende Abschnitt hat keinen wissenschaftlichen Anspruch mehr. Ich werde Erfahrungen und eigenes Wissen verarbeiten.
Im Schwimmen ist es entscheidend den Wasserwiderstand zu seinem Vorteil auszunutzen. In der Zug- und Druckphase sollten möglichst hohe Widerstandskräfte erhalten werden und der Körper im Gegensatz so im Wasser geführt werden, dass die Kräfte möglichst minimiert werden.
Doch wie lässt sich dieses Prinzip mit der Wende vereinbaren? Ein Abstoß mit mehr Kraft bedeutet eine höhere Wandkontaktzeit, eine höhere Abstoßgeschwindigkeit, jedoch aber auch eine höhere Widerstandskraft. Ein Abstoß mit weniger Kraft führt zu einer schnelleren Wandkontaktzeit und zu geringerer Widerstandskraft, aber zu weniger Geschwindigkeit. Lange Zeit dachte man, dass dies die einzigen Möglichkeiten sind eine Wende auszuführen. Doch Michael Phelps lehrte einem Besseres. Er vollzog seine Wende mit einem geringen Kraftstoß und einer langen Wandkontaktzeit. Die Abstoßbewegung führte er allmählich und kontrolliert aus. Seine Kraftspitze liegt kurz vor dem Verlassen der Wand, wenn er sich schon in einer strömungsgünstigen Lage befindet. Mit dieser Methode konnte er maximale Geschwindigkeit bei geringsten Widerstandswerten erreichen. In Zahlen bedeutet dies:

Profischwimmer

Michael Phelps

F (Abstoß)

1300N

1000N

t (Abdruck)

0,2s

0,3s

F (w)

1200N

250N

v (Abstoß)

2,5 m/s

3,0 m/s

Betrachtet man auch den weiteren Wendenverlauf, so kann man signifikante Unterschiede feststellen. Michael Phelps prägte das Prinzip der Widerstandsminimierung. Im Gegensatz zu allen anderen Schwimmern stieß er sich nicht parallel zur Wasseroberfläche ab, sondern im 45 Grad Winkel nach unten. Er taucht dann weit und tief, um steil wieder aufzutauchen.  Doch warum nimmt er diesen längeren Weg in Kauf. Folgt man seinem Prinzip, so ist dieses Verhalten äußerst schlüssig. Bewegt sich ein Schwimmer zur Wand. so zieht er die Wassermassen um sich herum mit in Schwimmrichtung. Stößt man sich nun in dieses bewegte Wasser ab, so ist der Widerstandswert entscheidend höher. In tieferem Wasser herrscht ein geringerer Widerstand.
Doch die Tiefe im Wasser bringt Michael Phelps noch weitere entscheidende Vorteile. Je tiefer ein Körper im Wasser liegt, desto höher ist auch seine Auftriebskraft. Betrachtet man einen Luftballon, den man unter Wasser drückt, so schnellt dieser schneller hoch, je tiefer man ihn unter Wasser drückt. (Archimedisches Prinzip)
Der aufmerksame Leser fragt sich jetzt jedoch sicherlich, wenn Michael Phelps steil auftaucht würde er dem Wasserwiderstand mit seinem kompletten Körper eine großer Angriffsfläche bieten. Und dies tut es auch, jedoch bewusst. Wird ein Körper angeströmt, so erfährt er eine Auftriebskraft, wenn die Strömungsgeschwindigkeit auf verschiedenen Seiten unterschiedlich ist. Dies ist das selbe Prinzip, wieso ein Flugzeug vom Boden abhebt. Es entsteht eine Sogwirkung, die den Schwimmer nach oben zieht. Sog- und Auftriebskraft sind größer als die auftretenden Widerstandskräfte, wodurch der Schwimmer einen Geschwindigkeitsschub erfährt.
Diese Wendentechnik scheint die schnellste zu sein. Jedoch nutzen nur die wenigsten diese Wende, selbst bei Profischwimmern. Voraussetzung ist ein Schmetterlingsbeinschlag, der einen nicht unter Schwimmgeschwindigkeit fallen lässt und eine kardiopulmonale Belastungsfähigkeit um mehrmals 15m tauchen zu können. Bei den meisten scheitert es an beiden Bedingungen, so dass sie mit ihren „schlechteren“ Wenden für sich selber effektiver sind. Hier sieht man wieder den Optimaltrend. Es bleibt abzuwarten, ob Schwimmer, die jetzt mit den Trainingsmethoden von Michael Phelps trainieren, diese Wendentechnik in der Zukunft so beherrschen werden wie er.
 

Zuletzt geändert: 4. Dez 2014, 14:09, [lehner24]